Impuls vom 20.04.2012

Anna Schäffer (Hirtenwort)

Hirtenwort des Bischofs von Regensburg zur Heiligsprechung der seligen Anna Schäffer aus Mindelstetten


Meine lieben jugendlichen und erwachsenen Brüder und Schwestern!

Ein folgenschwerer Unfall

1.
Am 4. Februar 1901 ereignete sich im Leben der "Schreiner Nanderl", wie sie in ihrem Heimatdorf Mindelstetten liebevoll genannt wurde, ein furchtbares Unglück, das zu ihrem Schicksal werden sollte. Die 1882 geborene Anna Schäffer entstammte einem kinderreichen und christlich geprägten Elternhaus. Wie es damals bei Mädchen aus einfachen Verhältnissen üblich war, musste sie nach der Volksschule, die sie mit sehr guten Leistungen abgeschlossen hatte, als Haushaltshilfe "in Stellung" gehen. Im Forsthaus zu Stammham, wo sie Arbeit gefunden hatte, rutschte sie an besagtem Unglückstag beim Versuch, ein schadhaftes Ofenrohr zu reparieren in einen Kessel mit kochender Waschlauge und verbrühte sich beide Beine bis über die Knie. Trotz aller ärztlichen Bemühungen und vieler Operationen konnte ihr nicht geholfen werden. Rund ein Vierteljahrhundert lang blieb sie bis zu ihrem Tod am 5. Oktober 1925 ans Bett gefesselt.

2.
Zu den unerträglichen körperlichen Schmerzen gesellte sich bald bittere Armut. So musste sie ihr Elternhaus verlassen und hatte mit einer Rente von nur neun Reichsmark auszukommen. Davon war auch die Miete für ein kleines Zimmer aufzubringen. Ihr Hausarzt versuchte – soweit das möglich war – ihr zu helfen und versorgte sie aus christlichem Mitleid heraus, ohne viel von ihr zu verlangen. Auch der Ortspfarrer Karl Rieger half ihr materiell und begleitete sie als Seelenführer. Tagtäglich brachte er ihr die heilige Kommunion.

3.
Wie jeder andere Mensch bäumte sich auch Anna Schäffer gegen dieses furchtbare Los auf, das sie ohne jede Schuld getrof-fen hatte: Da waren die fürchterlichen körperlichen Schmerzen, die einen Menschen zur Verzweiflung bringen, ja in den Wahnsinn treiben können, aber auch eine nicht minder schlimme seelische Verwundung. Alle Lebenspläne, die junge Menschen ganz natürlich entwerfen, waren durch den Schicksalsschlag zunichte gemacht geworden. Die junge Anna Schäffer hatte als Haushaltsgehilfin Geld zusammensparen wollen, um später in ein Kloster eintreten zu können. Ihr Lebenstraum war es, als Ordenschwester in Missionsländern den Menschen zu dienen und am Aufbau des Reiches Gottes mitzuarbeiten. Den Sinn ihres Lebens sah sie in diesem ihr von Gott zugedachten Lebensplan, der nun im bittersten Sinn des Wortes durch+kreuzt war.

Unverschuldetes Leiden als Anklage gegen Gott?

4.
Jeder gläubige Christ ist zu recht davon überzeugt, "dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt" (Röm 8,28). Wir glauben an die Vorsehung Gottes. Wenn aber durch Unfälle, heimtückische Krankheiten oder Verbrechen Unschuldige von schweren Schicksalsschlägen heimgesucht werden – besonders im Fall von Kindern und Jugendlichen – dann wird uns Gottes Liebe und Vorsehung zum Rätsel und Anstoß. Zweifel und Versuchung steigen dann in unserem Herzen empor und peinigen unseren Verstand: Wie kann Gott das zulassen? Warum gerade ich oder einer meiner Lieben? Es liegt nicht fern, dass wir dann an Gottes Liebe zu zweifeln beginnen, dass wir mit ihm hadern, uns von ihm abwenden oder uns der aufsteigenden Hassgefühle auf Gott und der Wut auf die Verkündigung seiner Liebe in der Kirche nicht mehr erwehren können.

5.
Ich selbst kenne aus persönlicher Erfahrung viele Kriegsversehrte, die den Glauben verloren hatten angesichts der entsetzlichen Not und des Elends, das Menschen an Leib und Seele so tief verwundet hatte. Als Jugendlicher trug ich eine religiöse Zeitschrift aus und sagte an der Haustür: "Ich bringe Ihnen die ‚Stadt Gottes’", worauf mir der etwa 40jährige Sohn der Familie zornig und empört entgegen rief: "Wo war denn dein Gott vor Monte Cassino, als ich mein Augenlicht verlor und ich nun lebenslänglich blind sein muss?" Die anklagende Frage und das Schicksal dieses Mannes aus meiner Heimatgemeinde bewegen mich in meinem religiösen Leben und theologischen Denken seitdem noch immer.

6.
Es liegt auf der Hand, dass man auf eine derart existentielle Not nicht mit einer theoretischen Antwort kommen kann, so logisch und einsichtig sie auch sein mag. Existentielle Fragen können nur durch existentielle Antworten aufgehellt werden. Nur solche Menschen, die in ähnlicher Weise an Leib und Seele verwundet wurden, können uns Vorbild sein und uns mit ihrem Beispiel helfen.

Anna Schäffer – Vorbild in der Nachfolge des gekreuzigten Herrn

7.
Anna Schäfer, diese einfache und schlichte Frau aus dem Volk, zeigt uns in ihrem geduldig ertragenen Schicksal, dass sich Gott auch im Leiden finden und verkünden lässt. Sie hat es gelernt, den Sinn ihres Lebens in einem anderen Apostolat zu finden, als ihr vorgeschwebt war: in einem Apostolat des Leidens und des Gebets für andere. Im Blick auf den gekreuzigten Jesus, der nur Gutes getan hatte und dennoch durch den Hass und die Missgunst der Menschen als Unschuldiger zum entsetzlichen Verbrechertod verurteilt wurde, erkennen wir, dass Gott auch mitten im Leiden und Sterben bei uns ist.

8.
Er, der Sohn Gottes von Ewigkeit, hat unser verletzliches und sterbliches Fleisch und Blut angenommen. Darum haben wir – wie wir es im Hebräerbrief lesen – "nicht einen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche" (Hebr 4,15). Dort heißt es weiter: "Als er auf Erden lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er ist erhört und aus seiner Angst befreit worden. Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt- zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden und wurde von Gott angeredet als ‚Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks’" (Hebr 5,7-10).

9.
In einem langen Prozess inneren Reifens und Ringens hatte Anna Schäffer sich nicht einfach nur mit ihrer ausweglosen Situation abgefunden oder sich selbst aufgegeben. Sie lernte, dass Gottes Liebe nicht nur im aktiven Tun, sondern auch im Leiden und für die Leidenden bezeugt werden kann. Sie sprach ihr ‚Ja’ zur Prüfung ihrer Liebe im Zeichen des Kreuzes. So wie Christus angenagelt war am Kreuz, so war auch Anna Schäffer gefesselt ans Bett des Krankenlagers und der Armut. So wie Christus "unsere Leiden auf sich genommen und unsere Krankheiten getragen" (Mt 8,17) hat, so trug auch Anna Schäffer in freier Hingabe der Liebe ihre Leiden für ihre Schwestern und Brüder, die Gott vergessen, sich gegen ihn auflehnen oder Christus durch ihre Sünden erneut ans Kreuz schlagen und ihn zum Gespött machen (vgl. Hebr 6,6).

Anna Schäffer – Modell eines recht verstandenen stellvertretenden Leidens

10.
Jeder Christ kann durch die geduldig ertragenen Leiden und Widrigkeiten des Lebens, durch die entsagungsvolle Sorge für Kinder und Familie und durch Pflichttreue im Beruf beitragen zur Versöhnung der Menschen mit Gott. Nicht Gott muss von uns versöhnt werden. Er war es ja, "der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat" (2 Kor 5,18). An uns aber liegt es, all das zu überwinden, was dem Bund mit Gott und dem lebenslangen Prozess eines immer tieferen Hineinwachsens in die Gesinnung Christi und die Gemeinschaft mit ihm entgegensteht.
So kann der Apostel das stellvertretende Leiden und das Sich-auf-opfern für andere so ausdrücken: "Jetzt freue ich mich in den Leiden, die ich für euch ertrage. Für den Leib Christi, die Kirche, ergänze ich in meinem irdischen Leben das, was an den Leiden Christi noch fehlt" (Kol 1,24).

11.
Dass Anna Schäffer zu einer solchen Reife tiefster Gemeinschaft mit dem leiden-den und auferstandenen Christus gelangen konnte, verdankt sie nicht meditativen Techniken oder den Methoden autogenen Trainings. Sie erfuhr diese Gnade durch ihre Begegnung mit Christus in der heiligen Kommunion: Christus in der heiligen Kommunion empfangen als Speise und Trank zum ewigen Leben ist nach den Worten des Apostels Paulus "Teilhabe am Leib und Blut Christi" (vgl. 1 Kor 10,16).

In ihrem letzten Brief schrieb Anna Schäffer: "Meine größte Stärke ist die heilige Kommunion." Ihr schönstes Wort aber sollte sich jeder Katholik zu Eigen machen: "Die Sonne meines Lebens ist Jesus im heiligsten Sakrament." Gottes Gnade wirkte das Wunder, dass sie sich mehr um die Nöte und Sorgen anderer kümmern konnte als um sich selbst. In vielen geistlichen Gesprächen und einem weit gestreuten Briefaustausch bis nach Amerika hin ist sie so zur Ratgeberin und Trösterin vieler geworden.

Anna Schäffer – Beispiel des Glaubens an die ganzheitliche Vollendung des Menschen in der leibhaften Auferstehung

12.
Liebe Schwestern und Brüder! Als Christen sind wir uns bewusst, dass wir nicht aus unserem Leib erlöst werden, sondern dass die Erlösung den ganzen Menschen umfasst. Bei der Auferstehung wird der Mensch in seiner ganzen leiblichen Integrität und Schönheit wiederhergestellt und vollendet. Darum sagt der Apostel: "Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne und Töchter Gottes" (Röm 8,18f).

13.
Am geduldig ertragenen Leiden Anna Schäffers sehen wir, dass es kein sinnloses Leben gibt. Zu welch einem Segen ist sie für viele geworden! Der Mensch ist mehr als er sich für die Gesellschaft nützlich machen kann. Sein Wert und seine Würde sind nicht in seiner Leistung begründet, die man in Aktienkursen messen könnte oder am Luxus und Genussleben, die er sich erträumt. Anna Schäffer ist für alle Leidenden zum Vorbild und Beispiel geworden. Sie ruft uns auf, alle Armen und Bedrückten als unsere Schwestern und Brüder anzunehmen, in ihnen "Christus als den Gekreuzigten" (1 Kor 1,23) zu erkennen und ihm in ihnen zu dienen.

So schreibt sie gleichsam als Summe ihrer Frömmigkeit: "Die wahre göttliche Liebe erlangt man nicht, wenn man aus dem Kelch des Leidens nicht getrunken, die Entziehung des Lichtes nicht erfahren und die Erfahrung der Verlassenheit von Seiten Gottes nicht erduldet hat" (aus: Gedanken und Erinnerungen meines Krankenlebens- und meine Sehnsucht nach der ewigen Heimat).

Anna Schäffer – Eine Heilige in Gottes Herrlichkeit

14.
Am 21. Oktober wird unser Heiliger Vater Papst Benedikt XVI. die selige Anna Schäffer heiligsprechen und sie der ganzen Weltkirche als Beispiel und Vorbild empfehlen, deren Gebet und Fürbitte im Himmel wir gewiss sein dürfen, wenn wir bei ihr Zuflucht nehmen. Was mich persönlich am meisten beeindruckt, ist die Verwandlung ihrer Schmerzen in ein Mitleiden und Mittragen für andere Menschen. Ihr ganzes Leben und Leiden ist zu einer einzigen Fürbitte geworden für das Heil anderer. Das ist Teilhabe an Christus, der uns die Eucharistie geschenkt hat, indem er auf seinen Tod am Kreuz für das Heil der Welt hinweist: "Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Das ist mein Blut, das für euch vergossen wird."
In Anna Schäffer können wir den Herzenswunsch Jesu mit Händen greifen: dass alle Menschen im Leben und Sterben ihre ganze Hoffnung auf Christus, den Herrn und Retter, setzen, "der unseren armseligen Leib verwandeln wird in die Gestalt seines verherrlichten Leibes, in der Kraft, mit der er sich alles unterwerfen kann" (Phil 3,21).

So segne Sie alle auf die Fürbitte der neuen Heiligen der dreieinige Gott, der + Vater und der + Sohn und der + Heilige Geist.

Regensburg, am Weißen Sonntag im Jahr des Heils 2012

+ Gerhard Ludwig
Bischof von Regensburg