Impuls vom 22.11.2021
Advent: Wagen, auf Gottes geheime Gegenwart zuzugehen
An den Anfang des Advent hat die kirchliche Liturgie seit früher Zeit ein Psalmwort gestellt, in dem der Advent Israels, das unermessliche Warten dieses Volkes, komprimierten Ausdruck gefunden hat: Zu dir erhebe ich meine Seele, mein Gott, auf dich vertraue ich...(Ps 24,1). Uns mag dieser Satz abgegriffen klingen, weil wir die Abenteuer nicht mehr gewohnt sind, die den Menschen nach innen führen. Während unsere Landkarten immer vollständiger geworden sind, ist das Innen des Menschen mehr und mehr zur terra incognita, zum Fremdland geworden, obgleich es dort größere Entdeckungen zu machen gäbe als im sichtbaren Universum.
Zu dir erhebe ich meine Seele: Der dramatische Sinn, der hinter diesem Psalm steht, ist mir neu zum Bewusstsein gekommen, als ich in diesen Tagen den Bericht las, den der französische Schriftsteller Julien Green über den Weg seiner Bekehrung zur katholischen Kirche veröffentlicht hat. Er erzähl, wie er in seiner Jugend gefangen war von den Genüssen des Fleisches. Es gab keine religiöse Überzeugung, die ihm zur Schranke hätte werden können. Und doch ist da etwas Merkwürdiges: Ab und zu geht er in eine Kirche, mit der uneingestandenen Sehnsucht, es möchte ein Wunder geben, durch das er mit einem Schlag befreit würde. Es gab kein Wunder, so fährt er fort, aber von ferne das Gefühl einer Gegenwart. Diese Gegenwart hat etwas Warmes und Verheißendes für ihn, aber noch stört ihn der Gedanke, zu seinem Heil etwa der Kirche zugehören zu müssen.
Er will die Gegenwart des Neuen, aber er will sie ohne Verzichte, gleichsam selbsttätig und gewaltlos. So stößt er auf die indische Religiosität und hofft hier auf einen besseren Weg. Aber die Enttäuschung bleibt nicht aus, und er fängt an, in der Bibel zu suchen. Er tut es so sehr, dass er bei einem Rabbi Hebräisch zu lernen beginnt. Eines Tages sagt dieser zu ihm: Nächsten Donnerstag komme ich nicht, weil Feiertag ist. Feiertag? fragt Green überrascht. Christi Himmelfahrt - muss ich Ihnen das sagen?, antwortet der Rabbi. Den jungen suchenden Menschen trifft dies wie ein Blitzschlag: Es ist, wie wenn die Worte der Propheten auf ihn herabprasseln würden. Ich war Israel, sagt er, dem Gott bittend zuruft, es möge heimkehren. Mir galt das Wort: Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis (Jes.1,3).
Solches Erfahren der Wahrheit der Schrift an uns, das wäre Advent. Das ist es, was der Psalmvers vom Erheben des Herzens meint, der aus einer abgegriffenen Münze zu etwas abenteuerlich Neuem und Großem werden kann, wenn man anfängt, in seine Wahrheit hineinzuwandern.
Was Julien Green von seiner aufgewühlten Jugend erzählt, gibt auf eine verblüffend genaue Art das Ringen wieder, dem sich auch heute unsere Zeit ausgesetzt sieht. Da ist die Selbstverständlichkeit des modernen Lebensgetriebes, das uns einerseits als die unabdingbare Form unserer Freiheit erscheint und das wir zugleich als die Sklaverei empfinden, von der uns am besten ein Wunder befreien sollte, aber nicht der altmodische Weg der Kirche, die überhaupt nicht als Alternative in Betracht zu kommen scheint. Schon eher zählt da der fremde Reiz exotischer Religionen. Und doch geschieht Entscheidendes schon darin, dass die Sehnsucht nach Befreiung nicht zertreten wird und dass sie ab und zu in Augenblicken der Stille in der Kirche zur Wirkung kommt. Diese Bereitschaft, sich einer geheimen Gegenwart auszusetzen, sie langsam anzunehmen, sie in sich eindringen zu lassen, das ist es, was Advent werden lässt: ein erstes Licht in einer noch so dunklen Nacht.
Irgendwann wird es dann bestürzend klar: Ja, ich bin Israel. Ich bin der Ochs, der seinen Herrn nicht kennt. Und wenn wir dann erschrocken vom Sockel unseres Hochmuts heruntersteigen, dann geschieht, was der Psalmist sagt: Das Herz erhebt sich, gewinnt Höhe und die verborgene Gegenwart Gottes dringt tiefer ein in unser verworrenes Leben. Advent ist kein jähes Mirakel, wie es die Prediger der Revolution und die Boten neuer Heilswege versprechen. Gott handelt ganz menschlich an uns, Schritt für Schritt führt er uns und wartet er auf uns. Die Tage des Advent sind wie ein stilles Anklopfen an unsere verschüttete Seele, das Wagnis des Zugehens auf Gottes geheime Gegenwart zu unternehmen, das allein freimachen kann.
Aus dem Buch: Gottes Glanz in unserer Zeit - Meditationen zum Kirchenjahr (Benedikt XVI. Joseph Ratzinger )