Impuls vom 09.11.2018
80. Jahrestag der Reichspogromnacht
Grußwort von Kardinal Reinhard Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz,
zur Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der Reichspogromnacht am 8. November 2018 in Würzburg
Der 9. November ist einer der denkwürdigsten Tage der deutschen Geschichte. Vor 80 Jahren, am 9. November 1938 brannten nicht nur hier in Würzburg, sondern in den Städten und Dörfern Deutschlands und Österreichs die Synagogen, wurden Torarollen in den Schmutz geworfen oder zerrissen, jüdische Wohnungen und Geschäfte geplündert und Juden auf offener Straße misshandelt. An den folgenden Tagen wurden etwa 30.000 Juden inhaftiert. Die Reichspogromnacht markiert den Übergang von der rechtlichen Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung der Juden zur offenen Verfolgung; ein Weg, der schließlich zur Shoah geführt hat. Dass damals so viele – die meisten von ihnen waren Christen – weggeschaut oder tatenlos zugeschaut haben, erfüllt uns bis heute mit Scham.
Doch der 9. November ist nicht nur der Tag der Reichspogromnacht. Am 9. November 1918 wird in Berlin die Republik ausgerufen. Am Tag zuvor wurde in München der Freistaat Bayern gegründet. Der 9. November ist aber auch der Tag des Hitlerputsches. In der Nacht vom 8. auf den 9. November 1923 versuchten Adolf Hitler und General Erich Ludendorff von München aus, die Republik zu stürzen. Der Putsch scheiterte. Aber 10 Jahre später war Hitler Reichskanzler. Schließlich ist der 9. November der Tag, an dem 1989 die Mauer in Berlin geöffnet wurde. Dieser Tag der Maueröffnung dürfte den meisten von uns in Erinnerung sein.
Manche aber werden sich fragen, ob es heute noch notwendig und sinnvoll ist, an die Reichspogromnacht zu erinnern. Doch wenn wir die Reichspogromnacht im Zusammenhang mit den anderen Ereignissen sehen, derer wir am 9. November gedenken, dann wird deutlich, warum dieses Gedenken auch heute sinnvoll und notwendig ist. Ich möchte zwei Punkte hervorheben: Zum einen zeigen die Ereignisse des 9. November, dass Rechtsstaat und Demokratie keine Errungenschaften sind, die einmal erworben werden und dann selbstverständlich sind. Die rechtsstaatliche Demokratie war und ist eine gefährdete Staatsform. Denn sie beruht auf den geteilten Überzeugungen der Bürgerinnen und Bürger, auf einem moralischen Grundkonsens. Die Achtung vor der Würde und den Grundrechten des Menschen ist nicht nur Aufgabe aller staatlichen Gewalt, wie das Grundgesetzt sagt. Sie ist auch eine moralische Norm, die die politische Kultur unseres Landes und das gesellschaftliche Miteinander bestimmen soll. Der demokratische Rechtsstaat setzt voraus, dass sich die Bürger im Alltag mit Respekt, Fairness und Wohlwollen begegnen, dass sie füreinander Verantwortung übernehmen und sich auch im Streit um Wahrheit und Wahrhaftigkeit bemühen. Wo diese Werte missachtet werden, gerät das friedliche Zusammenleben in Gefahr. Es sind nicht erst Taten oder offenkundige Rechtsverstöße, die den Grundkonsens angreifen und beschädigen. Die letzten Jahre der Weimarer Republik zeigen uns deutlich: Die Verrohung der Sprache führt zur Verrohung der Sitten.
Zum anderen ist jüdisches Leben ein Seismograph der deutschen Gesellschaft. Das war vor 80 Jahren so, das ist auch heute so. Gottlob drohen heute keine staatlich organisierten Pogrome. Heute stehen Polizeiwagen vor Synagogen, jüdischen Gemeindezentren, Kindertagesstätten und Schulen. Das ist beruhigend, aber normal ist es nicht. Erst recht ist es nicht normal, dass „Jude“ auf manchen Schulhöfen zum Schimpfwort geworden ist und Kippaträger mit verbalen oder tätlichen Angriffen rechnen müssen.
Eine Lehre aus den Ereignissen vor 80 Jahren lautet: Wir dürfen nicht wegschauen, wenn Juden in welcher Form auch immer angegriffen werden. Wir sind verpflichtet, antijüdischen Vorurteilen zu widersprechen und antijüdischen Angriffen zu widerstehen. Das ist nicht nur eine Bürgerpflicht, es ist auch eine Christenpflicht.
Papst Franziskus hat es auf die bekannte Formel gebracht: „Ein Christ kann kein Antisemit sein!“ Ich füge hinzu: Ein Christ ist verpflichtet, solidarisch mit Juden zu sein. Noch einmal dürfen und werden wir nicht wegschauen!