Impuls vom 10.09.2017

So langsam wie möglich

Die Sommerferien gehen zu Ende, ein neues Schuljahr beginnt, in der Pfarrei ein neues Arbeitsjahr, in vielen Vereinen und Chören die neue Saison ... Nicht alle von uns betrifft dieser Einschnitt, nicht alle hatten Urlaub, aber das Gefühl, dass einen der Alltag wieder hat – und dass er einen dann auch ganz schnell wieder hat, werden viele kennen. Und immer nehmen wir uns dann vor, uns von diesem Alltag mit seinen Forderungen nicht ganz in Beschlag nehmen zu lassen, uns einen Raum zu bewahren, wo wir so etwas wie freie Menschen bleiben.
Ich versuche es jedenfalls wieder einmal. Und lasse mich dabei von einem Wort begleiten, das von Mahatma Gandhi stammt. Der sagt: "Es gibt Wichtigeres im Leben, als beständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen."
Begegnet ist mir dieser Satz, als ich im Sommer in Halberstadt war, einer schönen Stadt in Sachsen-Anhalt. Dort gibt es nicht nur einen wunderbaren Dom, sondern auch die Burchardi-Kirche – und in ihr ein berühmtes Kunstprojekt, von dem Sie vielleicht schon einmal gehört haben. In dieser Kirche wird nämlich auf einer Orgel ein Stück von John Cage aufgeführt, das den Titel trägt: "Organ2 / ASLSP". Die Abkürzung steht für "As slow as possible – so langsam wie möglich". Und in Halberstadt versucht man diese Tempoangabe von Cage, einem höchst avantgardistischen Komponisten, so ernst wie nur irgend möglich zu nehmen, so dass eine unglaublich lange Aufführungsdauer herauskommt: Im Jahr 2001 hat sie begonnen, 2640 soll sie enden – wenn alles gut geht.
Das sind 639 Jahre! Kann man sich überhaupt vorstellen, dass das gut geht? Wer will sich anmaßen, über eine so lange Zeit etwas planen zu können? Eine Spinnerei, mag man denken. - Aber seltsam: Man glaubt gar nicht, wie viele Leute sich davon ansprechen lassen. Und mir ist es genauso gegangen: Je länger ich durch die Kirche wanderte und dem Akkord der Orgel lauschte, der sich erst 2020 wieder ändern wird, umso beeindruckter war ich. Und ich verstand, wie die Cage-Stiftung ihr Projekt begründet: "Angesichts unserer schnelllebigen Zeit ist dieses Vorhaben eine Form der versuchten Entschleunigung, der ‚Entdeckung der Langsamkeit‘ und das Pflanzen eines ‚musikalischen Apfelbäumchens‘, verstanden als Symbol des Vertrauens in die Zukunft."

Entdeckung der Langsamkeit, Entschleunigung – das sind momentan sehr aktuelle Schlagworte. Wenn einer in seiner Arbeitswelt steckt, wo die Ansprüche normalerweise stetig höher werden- da wir alle in einer Gesellschaft leben, deren Tempo ständig zunimmt und in der die allermodernsten Dinge – unsere Handys zum Beispiel oder die größten Medienereignisse – erschreckend schnell wieder "von gestern" sind, - dann hat so etwas wie "Entschleunigung" tatsächlich etwas Anziehendes. Dass bei uns schnell gearbeitet und gelernt wird und wir ziemlich fleißige Leute sind, ist einer der Gründe für unseren Wohlstand, und wer wollte etwas daran ändern! Dass dabei manches andere auf der Strecke bleibt, ist allerdings auch nicht zu leugnen.
Gibt es nicht Dinge, für die man sich gar nicht genug Zeit nehmen kann? Für die Menschen zum Beispiel, die einem am Nächsten stehen? Ich kenne viele, bei denen ich mir denke: Wie viel Kostbares entgeht Dir, weil Du das nicht erkennen kannst: "Es gibt Wichtigeres im Leben, als beständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen."

Noch ein Satz ist mir in Halberstadt begegnet. Großzügige Spender für das Projekt können sich nämlich in dieser Kirche auf Tafeln verewigen. Und auf einer ist zu lesen: "Die Wiederholung ist der Tod des Wunders." Diesen Spruch hat ein Brautpaar an seinem Hochzeitstag angebracht. Man versteht, was sie meinen und was sie sich erhoffen, aber besonders realistisch ist das nicht. Und stimmen tut es auch nicht – weder in der Partnerschaft noch überhaupt im Leben. Um es noch einmal mit dem Zitat von Ratzinger zu sagen: "Große Dinge werden durch Wiederholung nicht langweilig. Nur das Belanglose braucht die Abwechslung und muss schnell durch anderes ersetzt werden. Das Große wird größer, indem wir es wiederholen, und wir selbst werden reicher dabei und werden still und werden frei."
Jeder, der sich wirklich auf einen Menschen einlässt, weiß, dass das richtig ist. Und jeder weiß es, der sich auf seinen Glauben einlässt. Religion braucht einen langen Atem. Liturgie und Gebet lebt von der Wiederholung. Das ist für die einen nur langweilig – und für die anderen das, was ein Stückchen Ewigkeit in dieser Welt aufscheinen lässt, so wie die Musik in Halberstadt, jenseits unserer Zeit und Eile und ein Stückchen von Gott.

"Es gibt Wichtigeres im Leben, als beständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen." Ich möchte uns allen wünschen, dass wir unterscheiden können, wo in unserem Leben das wirklich angesagt ist, dieses "so langsam wie möglich", weil es uns erst dann reich werden lässt. Und ich möchte uns wünschen, dass hier in unserer Kirche, wo schon sehr viel länger als 639 Jahre gebetet und gesungen wird, wir durch alle Wiederholungen hindurch das entdecken können, was uns still werden lässt und frei.