Impuls vom 30.12.2015

... und nichts mehr zu fürchten braucht

Zum Jahreswechsel gehören für viele ganz bestimmte Rituale. Die einen freuen sich darauf, den Abend mit den immer gleichen guten Freunden feiern zu dürfen- für andere ist es kein richtiger Silvester, wenn sie nicht im Fernsehen "Dinner for one" sehen- und wieder andere nehmen sich eine Stunde Zeit, machen vielleicht einen Spaziergang dafür, um auf das zu Ende gehende Jahr noch einmal zurückzuschauen: was alles war, was es mit ihnen gemacht hat, wo sie stehen.
Mein kleines Ritual ist immer, bewusst den Kalender des neuen Jahres in die Hand zu nehmen und auf die erste Seite einen Spruch zu schreiben: ein Bibelwort, ein Zitat – einfach etwas, auf das immer wieder zurückzublättern einem gut tun kann, weil es Mut macht, weil es den Blick auf das Wesentliche lenkt. Heuer hat mir eine liebe Weihnachtskarte das richtige Motto geschenkt, ein Wort von Leo Tolstoi: "Wer die Lehre Christi begreift, hat dasselbe Gefühl wie ein Vogel, der bis dahin nicht wusste, dass er Flügel besitzt und nun plötzlich begreift, dass er fliegen, frei sein kann und nichts mehr zu fürchten braucht."

"Was bringt denn der Glaube?", werde ich manchmal gefragt – und könnte eigentlich künftig mit diesem Satz antworten. Glaube bringt Freiheit. Wer sich durch Jesus Christus erlöst weiß von Sünde und Tod- wer Gott vertrauen kann- wer weiß, dass nichts in dieser Welt ewig ist, alles aber auf Gott zuläuft, der kann die Dinge dieser Welt viel besser einordnen. Der kann so manches relativieren, was uns oft so wichtig erscheint. Der kann gelassener leben, sich weniger Sorgen machen und weniger auf Geld und Besitz schauen, wie Jesus empfiehlt, und über einiges, was uns so umtreibt, auch einfach nur lachen. Denn wie schon der gute alte Pater Brown festgestellt hat: "Humor ist eine Erscheinungsform von Religion. Nur wer über den Dingen steht, kann auch über sie lachen." Und in dieser Sehnsucht, ein wenig mehr "über den Dingen zu stehen", die mich oft so in Beschlag nehmen und nach unten ziehen, spricht mir Tolstoi darum aus dem Herzen: "Wer die Lehre Christi begreift, hat dasselbe Gefühl wie ein Vogel, der bis dahin nicht wusste, dass er Flügel besitzt und nun plötzlich begreift, dass er fliegen, frei sein kann und nichts mehr zu fürchten braucht."

Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Auch ein gläubiger Mensch ist nicht wirklich frei von Sorge und Angst. An Silvester merken wir das deutlich, wenn wir doch so manches mitnehmen in das neue Jahr, was einen ängstigt: eine Krankheit, ein großer Kummer in der Familie, ein schier unlösbares Problem. Auch das Wissen um die eigene Vergänglichkeit, die uns heute vielleicht sagen lässt: "Das gibt’s doch nicht, schon wieder ein Jahr vorbei, wie schnell einem doch das Leben zwischen den Fingern zerrinnt ..."
Und natürlich gehören auch die Probleme in der großen Welt dazu, die uns 2015 in Atem gehalten haben und es auch 2016 werden. Am Anfang und am Ende des heurigen Jahres standen schreckliche Attentate in Paris und dazwischen unzählige andere blutige Terrorakte in Syrien und Irak, in Tunesien und Nigeria und anderswo, die fast immer einen islamistischen Hintergrund hatten. Monatelang gab es dann kein anderes Thema als Griechenland und die Euro-Krise, bis schließlich die Hunderttausende an Flüchtlingen uns wieder an den Krieg in Syrien und die verzweifelte Lage in vielen anderen Ländern erinnerten.

Gerade diese vielen Fremden, die zu uns gekommen sind, machen vielen Angst. Und es ist ja nicht zu beschönigen: Die Herausforderungen sind riesengroß – und die zunehmende Polarisierung in unserer Gesellschaft ist erschreckend. Aber umso mehr würde ich mir wünschen, dass wir Christen mit diesen Dingen doch noch einmal anders umgehen können als andere – haben wir doch das Evangelium, das diesbezüglich klarer nicht sein kann, und haben wir vor allem den Glauben, der – ich wiederhole mich – so manches relativiert. Der vor allem auch unsere Ängste und Sorgen relativiert, nicht zuletzt die für manche so schreckliche Angst, es könnte einem etwas weggenommen werden.
"Wer die Lehre Christi begreift ...", sagt Tolstoi. Wie sehr sollten wir uns das für das neue Jahr wünschen: diese Lehre, ja mehr noch: diesen Jesus Christus selbst immer mehr zu begreifen – und so immer mehr zu erfahren, dass wir freiere Menschen sein können, sozusagen unabhängiger von unserer eigenen "Schwerkraft", und dass wir uns darum im Letzten nicht zu fürchten brauchen.

So legen wir dieses Jahr zurück in Gottes Hände. Denn in seinen Händen hat alles Platz: unsere Sorgen, unsere Ängste, unsere Hoffnungen und Sehnsüchte, unsere Zeit. "Meine Zeit steht in deinen Händen." Und nichts Besseres können wir erbitten für diesen Abend und für das kommende Jahr als das, was uns dieses Lied zusingt: "Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in Dir. Du gibst Geborgenheit, du kannst alles wenden. Gib mir ein festes Herz, mach es fest in dir." (GL 840)