Impuls vom 19.06.2015

Nächstenliebe globalisieren

Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki
Appell zum Solidaritätsabend für Flüchtlinge am 19. Juni 2015 auf dem Roncalliplatz in Köln


Liebe Schwestern, liebe Brüder,
hinter jedem der Glockenschläge, die soeben verklungen sind, stand ein Toter. 23.000 Menschen sind seit dem Jahr 2000 auf ihrem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken. Auf dem Weg weg von menschenunwürdigen Lebensbedingungen haben diese 23.000 Menschen leider genau dieselben menschenunwürdigen Bedingungen erlitten, die sie hinter sich lassen wollten. Migration ist Kennzeichen einer jeden Epoche und ein zutiefst menschlicher Vorgang, den wir nicht einfach ausbremsen oder abwenden können.
Im 19. Jahrhundert war Amerika das verheißungsvolle Ziel, heute ist es Europa. Doch während in Amerika die Einwanderer auf Liberty Island von der Freiheitsstatue begrüßt wurden, schottet sich Europa ab und schützt mit Zäunen und der Grenzschutzagentur Frontex unseren Wohlstand. Menschen auf der Flucht sollen das reiche Europa gar nicht erst betreten. Sie stehen vor Zäunen und Mauern oder ihre Schiffe werden beschossen.
Europa darf nicht nur eine Union sein, in der es vor allem um wirtschaftliche Interessen geht. Europa muss jene Wertegemeinschaft sein und bleiben, die sich klar und unverbrüchlich zur Charta der Grundrechte ihrer Union bekennt, die nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger der EU gelten, sondern für alle Menschen- Werte, die seit jeher in den EU-Verträgen verankert sind: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte. Deshalb brauchen wir endlich eine europäische Willkommenskultur und damit legale und sichere Möglichkeiten, nach Europa einzureisen. Migration wird es immer geben – sie ist ein wichtiger Bestandteil der Menschenrechte. Und für die hier ankommenden Menschen sollte spürbar sein: Nächstenliebe endet nicht an den Zäunen und im Wassergraben Südeuropas- wir müssen Nächstenliebe endlich globalisieren. Jeder Mensch auf dieser Erde ist mein Nächster, ist mein Bruder und meine Schwester und ich muss mich – einfach weil er ein Mensch ist wie ich selbst - für ihn einsetzen.
Überfordern wir uns damit nicht, fragen viele. Hier müssen wir uns klarmachen: Weltweit sind nach den neusten Zahlen annähernd 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Nur ein kleiner Teil von ihnen sucht Zuflucht bei uns in Europa. Der Großteil der Flüchtlinge wird von den armen und vielfach krisengeschüttelten Nachbarländern der Krisenregionen aufgenommen! 90 Prozent aller Flüchtlinge blei-ben in den so genannten Entwicklungsländern Asiens, Afrikas und Asiens. Im kurdischen Nordirak bedeutet dies konkret, dass auf jeden vierten Einwohner ein Vertriebener kommt. Wir Europäer können mehr leisten als bisher, das ist für mich ein Gebot der Nächstenliebe.
Ich appelliere daher an die europäischen Politiker, legale und sichere Wege der Migration nach Europa zu schaffen. Um das Sterben im Mittelmeer zu verhindern, brauchen wir eine Seenotrettung für Flüchtlinge auf dem Mittelmeer. Dafür setzt sich MOAS ein. Das Ehepaar Christopher und Regina Catrambone hat die Seenotrettung 2013 gegründet, nachdem rund 400 Flüchtlinge vor der italienischen Insel Lampedusa ertranken. Sie hofften, dass diese humanitäre Initiative weltweit andere Menschen inspiriert und dazu beiträgt – wie Papst Franziskus sagt – die "Globalisierung der Gleichgültigkeit" abzubauen. Mit der Hilfe und der Solidarität aller Menschen guten Willens wollen wir diese Seenotrettungsaktion unter-stützen.
Die Kapitäne der Handelsschiffe müssen zudem ermutigt und unterstützt werden, Schiffbrüchige aufzunehmen. Derzeit müssen Kapitäne mit Schwierigkeiten im nächsten Hafen rechnen und sie bekommen keine Kompensation, wenn sie einen Heuertag verlieren. Auf dem Mittelmeer muss sich eine "Globalisierung der Nächs-tenliebe" als Gegensatz zu einer "Globalisierung der Gleichgültigkeit" auswirken. Aber nicht nur dort. Wir alle wissen es längst: Es muss sich auch in den ärmsten Ländern der Welt und bei uns hier etwas ändern. Eine "Globalisierung der Nächstenliebe" bedeutet, dass wir die komplexen Zusammenhänge der Globalisierung im Blick haben. Und das fängt oft bei den ganz kleinen alltäglichen Dingen an. Etwa: fair gehandelten Kaffee kaufen, bei der Kleidung fragen, wo und unter welchen Umständen sie produziert wurde und woher die Rohstoffe für unser Handy stammen.
Das gilt für jeden von uns – auch für mich. Papst Franziskus hat es auf Lampedusa damals so formuliert und seither immer wieder gesagt: "Die dort ertrinken, sind Menschen wie wir, es sind unsere Brüder und Schwestern". Diejenigen, die es bis zu uns geschafft haben, sollten wir auch so aufnehmen. Hoffen wir, dass es künftig mehr Menschen sein werden. Danke Ihnen allen, dass Sie mit uns heute Abend ein Zeichen gesetzt haben. Danke, dass Sie MOAS und die damit einhergehende Initiative zur Seenotrettung unterstützen.
Danke an alle, die diesen Abend mit vorbereitet und gestaltet haben. Danke im Namen aller Menschen, deren Leben auf der Flucht in diesen Stunden bedroht ist. Ihnen gehören unsere Aufmerksamkeit und unser Einsatz. Danke!