Impuls vom 21.02.2015
Im Fremden Christus erkennen
Im Fremden Christus erkennen: ein Zeichen der Zeit
Brief des Bischofs von Magdeburg G. Feige zur österlichen Bußzeit 2015
1. Bedenkliche Erfahrungen
Liebe Schwestern und Brüder, da ist eine afrikanische Mutter neu in unserer Region und macht – wie von ihr kürzlich im MDR-Fernsehen zu hören war – die Erfahrung, dass sie in einer unserer Gemeinden Sonntag für Sonntag am Gottesdienst teilnimmt, ohne dass jemand sie anspricht. Erst als sie nach einiger Zeit selbst auf den Pfarrer zugeht und fragt, ob sich denn niemand für sie und ihre Kinder interessiere, findet sie Anschluss und herzliche Kontakte. Da hat andererseits ein aus Eritrea ge-flohener junger Mann im Umfeld unserer Kathedrale in Magdeburg Menschen gefun-den, die ihm helfen sich einzuleben. Auf der Heimfahrt ins Asylantenheim jedoch wird er neulich von Jugendlichen in der Straßenbahn geschlagen, reißt man ihm die Kette mit dem Kreuz vom Hals. Da erzählt schließlich ein 12-jähriger Schüler aus Dresden vor ein paar Wochen weinend seinem Vater: "Auf einmal sind alle in meiner Klasse gegen mich, weil ich Muslim bin". Und seine Eltern erlauben ihm nicht mehr, dass er montagabends das Haus verlässt.
Solche oder ähnliche Schicksale erleben Menschen, die oft unter großen Strapazen und Gefahren aus anderen Ländern zu uns kommen. Über 50 Millionen sollen derzeit aufgrund von Kriegen und Menschenrechtsverletzungen auf der Flucht sein, davon bis zu zehn Millionen Kinder. Regelmäßig hören oder lesen wir von ihren dramati-schen Schicksalen. Erst jüngst haben wieder hunderte von Flüchtlingen im Mittel-meer ihr Leben verloren. Doch selbst, wenn sie es schaffen, nach Europa zu gelan-gen, sind sie noch längst nicht in Sicherheit. Oftmals schlagen ihnen Misstrauen und Ablehnung entgegen- gelegentlich kommt es sogar zu gewalttätigen Übergriffen. Obwohl in unseren östlichen Bundesländern bisher nur wenige Ausländer leben – in Sachsen-Anhalt handelt es sich lediglich um 1,9% der Bevölkerung – sind Fremden-angst und Fremdenfeindlichkeit gerade hier in einem erschreckenden Ausmaß ver-breitet. Besonders markant und beschämend kommt das seit einigen Wochen bei bestimmten Demonstrationen zum Ausdruck. Wenn auch die menschenverachten-den Taten islamistischer Terroristen aufs Schärfste zu verurteilen sind, rechtfertigt das jedoch nicht, Muslime generell zu verdächtigen und auszugrenzen.
2. "Ich war fremd und obdachlos…"
Angesichts all solcher Vorkommnisse, Entwicklungen und Tendenzen wird immer deutlicher, dass das Thema Migration zu einer der bedrängendsten politischen und sozialen Herausforderungen geworden ist. Wie wir mit Flüchtlingen und Fremden umgehen, zeigt, welcher Geist in unserer Gesellschaft herrscht, und entscheidet zu-gleich auch über unsere Zukunft. Hier sind wir als Kirche besonders gefragt. Als eine Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern aus allen Völkern und Nationen gehört es immer schon zu den Grunddiensten der Kirche, Anwältin für Migration und In-tegration zu sein. Die aktuelle Flüchtlingsproblematik ist dabei geradezu ein "Zeichen der Zeit", das uns drängt, sehr konkret Position zu beziehen.
Die Grundlage, auf der wir das tun, ist unser Gottes- und Menschenbild. "Unter den Geboten Gottes gibt es wenige, die dem Schutzgebot gegenüber Fremden und Flüchtlingen an Gewicht und Eindeutigkeit gleichkommen."1 So heißt es z.B. schon im Buch Levitikus (19,33f.): "Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Ein-heimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst- denn ihr seid selbst Frem-de in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott". Aufforderungen dieser Art zie-hen sich wie ein roter Faden durch das ganze Alte Testament und werden im Neuen Testament noch verstärkt. Eine solche Gesinnung kommt z.B. auch im Gleichnis vom barmherzigen Samariter zum Ausdruck. Die Liebe zum Nächsten überwindet alle Grenzen von Herkunft, Religion und Kultur. Und im Pfingstbericht erfahren wir, wie es der Geist Gottes den unterschiedlichsten Völkern ermöglicht, zu einer Einheit in Viel-falt zusammenzuwachsen (vgl. Apg 2,1-14).
Als Kirche sind wir damit von Anfang an eine internationale Gemeinschaft von Welt-bürgern und kein kleinkarierter Verein von "Nationaltümlern" oder "Hinterwäldlern", die sich nur im eigenen Milieu wohlfühlen und darin verbarrikadieren. Wie sehr das auch uns betrifft, spiegelt sich in mancher Statistik wider. So sind z.B. in unserer Kathedralpfarrei von den rund 4000 Mitgliedern etwa 1000 nicht hier geboren, sondern zugewandert, und zwar aus 63 verschiedenen Nationen. Wenn die ethnische Vielfalt auch nicht in allen unseren Pfarreien so groß ist, sollten wir doch überall solche Ver-änderungen noch bewusster wahrnehmen und kreativ darauf reagieren. Ich bin davon überzeugt, dass dies uns einiges abverlangt, insgesamt aber letztlich gut tun wird.
In den Flüchtlingen wie auch in den anderen Ausländern um uns herum begegnet uns Christus selbst. Er ist der Gast, der um Aufnahme bittet. So konkret und real heißt es am Ende des Matthäusevangeliums (25,34f.) auch: "Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, und nehmt das Reich in Besitz…. Denn ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen." Von daher wird Christus uns am Ende unseres Lebens bestimmt nicht fragen: "Habt Ihr euch auch genügend um euch selbst gekümmert und erfolgreich das Abendland verteidigt?" Seine Frage wird viel-mehr lauten: "Was habt Ihr meinen Schwestern und Brüdern getan, die aus Not und Bedrängnis zu Euch geflüchtet sind?"
3. Informieren – sensibilisieren – animieren
Liebe Schwestern und Brüder, ich weiß darum, dass sich viele in unserem Bistum schon für Flüchtlinge einsetzen und auch um andere Ausländer sorgen. Doch das ist noch nicht überall selbstverständlich. Vielerorts gibt es Ängste und Vorurteile, fehlt es noch an gemeinsamen Erfahrungen im Zusammenleben von Menschen unterschied-licher Herkunft. Was können Sie also tun, wenn Sie sich als Einzelne, als Gruppe, als Gemeinde oder als Pfarrei im Sinne Jesu engagieren möchten?
Informieren
Das erste ist, sich entsprechendes Wissen zu verschaffen. Viele Vorbehalte können allein schon dadurch überwunden werden, dass man z.B. das Schicksal der Fremden genauer kennt: woher sie kommen, wie die Situation in ihrem Land ist, warum sie geflüchtet sind. Um ihnen gerecht zu werden, ist es dann auch wichtig, sich über die gesetzlichen Grundlagen zu informieren, die für die einzelnen Flüchtlinge in ihrer je-weiligen Situation zutreffen, denn "Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling"2. Aufklärung und Differenzierung sind notwendig, um irrationalen Ängsten und gängigen Stamm-tischparolen etwas entgegenhalten zu können. Ist doch z.B. immer wieder auch zu hören, dass Flüchtlinge lieber arbeiten gehen sollten, als Sozialleistungen in Empfang zu nehmen. Dass viele aber von ihrem Status her gar nicht arbeiten dürfen, ist hierzulande offenbar nur wenigen bewusst. Darüber hinaus werden Asylbewerbern derzeit auch keine Sprachkurse bezahlt, so dass sie auf Ehrenamtliche angewiesen sind, die ihnen helfen, Deutsch zu lernen. Manche Gemeinden oder Einzelne würden sich gern für Flüchtlinge engagieren, doch fehlt es oftmals einfach auch an Wissen, wohin man sich wenden kann, wenn man konkret helfen möchte. Eine gute Informa-tionsgrundlage bietet dafür die "Orientierungshilfe für die Flüchtlingssozialarbeit", die der Diözesancaritasverband im Bistum Magdeburg kürzlich herausgegeben hat und die ich allen nur empfehlen kann.
Sensibilisieren
Über gediegene Informationen hinaus ist es wichtig, dass wir ein immer tieferes Gespür für die Würde der Menschen entwickeln, die sich zunächst als Fremde bei uns aufhalten. Egal, woher sie kommen, egal, warum sie geflüchtet sind, egal, welchen rechtlichen Status sie haben: sie sind zuallererst einmal Menschen und Ebenbilder Gottes. Darum halte ich z.B. eine Politik für fragwürdig, die die Zuwanderung vor allem nach "Nützlichkeit" regeln will. Konkret heißt das: Wer von seiner Qualifikation her gebraucht wird, darf bleiben, andere nicht. Ebenso halte ich es für entwürdigend, wenn manche unterschwellig zwischen "guten" und "schlechten" Asylsuchenden unterscheiden. Als "Gute" werden die verstanden, die politisch oder religiös verfolgt werden, als "Schlechte" hingegen die, die man als sogenannte "Wirtschaftsflüchtlinge" abtut, richtiger aber als "Armutsflüchtlinge" bezeichnen sollte. Wer kann es Men-schen, die in notvollen Verhältnissen leben, eigentlich verdenken, wenn sie sich – von den Medien weltweit über den Luxus anderswo in Kenntnis gesetzt – eines Ta-ges auf den Weg machen, um dort vielleicht ein besseres Leben zu finden? Sind nicht Millionen von Menschen in unserem Land selbst die Nachfahren von Zugewanderten, Vertriebenen und Flüchtlingen, die hier für sich eine neue Heimat und eine bessere Zukunft gesucht haben? Und wären, wenn man nach 1989 in Ostdeutsch-land nicht bald die D-Mark eingeführt hätte, nicht viele DDR-Bürger ebenfalls zu "Wirtschaftsflüchtlingen" geworden? Sicher, vieles muss staatlicherseits noch besser geregelt werden. Uns aber sollte es zunächst einmal vor allem darum gehen, in denen, die zu uns kommen, die Mitmenschen zu sehen – mit ihren Nöten und Schicksa-len, aber auch mit ihren Träumen und Hoffnungen.
Animieren
Und schließlich gehört dazu auch, einander zu ermutigen, etwas für die Flüchtlinge unter uns zu tun. So brauchen diese z.B. Menschen, die ihnen helfen, sich beim Gang zu Ämtern oder beim Abfassen von Schreiben zurechtzufinden. Sie brauchen Menschen, die mit ihnen die deutsche Sprache üben oder ihre Kinder betreuen. Sie brauchen aber auch Menschen, die sich einfach für sie interessieren und mit ihnen etwas unternehmen. Ich bin sicher, dass Sie als Gemeinde oder als Einzelne, wenn Sie sich erst einmal innerlich darauf einlassen, herausfinden können, was die ande-ren brauchen und was Ihnen selbst möglich ist. In einem französischen Ort hat z.B. eine Frau ganz einfach, weil es im nahegelegenen Aufnahmelager keinen Strom gab, täglich die Handys von Flüchtlingen aufgeladen, damit diese die Verbindung zu ihren Familien halten konnten.
Liebe Schwestern und Brüder, ob Sie nun einfach zu Fremden Kontakte knüpfen, mit ihnen Sprachpatenschaften eingehen, ihnen bei Behördengängen behilflich sind oder sie mit in den Gottesdienst nehmen, ob Sie Ausländern – Christen wie Nichtchristen – helfen, bei uns heimischer zu werden, ob Sie für unsere "Flüchtlingshilfe Sachsen-Anhalt" spenden oder sich auf den verschiedenen Ebenen in der Zuwanderungspolitik engagieren: immer geht es darum, im anderen den Menschen zu sehen – ja, in ihm letztlich Jesus Christus zu erkennen. Ich bitte Sie deshalb herzlich: lassen Sie sich auf das Schicksal der Flüchtlinge in unserem Land ein. Informieren Sie sich über die Möglichkeiten des Engagements und helfen Sie ihnen. Sie reagieren damit auf ein "Zeichen der Zeit" und tragen zum sozialen Frieden in unserer Gesellschaft bei. Gehen Sie mit den ermutigenden Erfahrungen, die Sie dabei machen, auch ruhig in die Öffentlichkeit – als Gegengewicht zu all den negativen Schlagzeilen, von denen zur Zeit die Rede ist. Dem Herzen Gottes stehen Flüchtlinge und Fremde besonders nahe – lassen wir sie auch unseren Herzen näherkommen. Öffnen wir uns der Weite und Großzügigkeit Gottes. Teilen wir miteinander den Reichtum, den er uns jeweils geschenkt hat.
In herzlicher Verbundenheit erbitte ich Ihnen dazu allen den Segen des allmächtigen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.
Magdeburg, am 1. Sonntag der österlichen Bußzeit 2015