Impuls vom 09.01.2015
Gefragt sind überzeugte und überzeugende Christen
Bischof Dr. Franz-Josef Overbeck, Essen
Wort zum 1. Januar 2015
"Ist da jemand?", so titelte im vergangenen Jahr eine Zeitschrift unter dem Foto
eines nächtlichen Sternenhimmels. Dunkle Wolken brachen auf und öffneten den
Blick in eine endlose Weite. "Ist da jemand" – irgendwo in den Weiten des
Universums? Ist da jemand über uns Menschen hinaus, jenseits von allem, was wir
sehen und wissen können? Die endlose Weite des Alls deutete die Antwort an: Nein,
da ist niemand mehr.
Die Autoren des dazu gehörenden Artikels zeigten eine bedrückende Entwicklung
auf: Immer mehr Menschen in Deutschland glauben nicht mehr an Gott. Selbst unter
den Angehörigen der christlichen Kirchen verliert Gott an Bedeutung. Erstaunliches
deckte dazu eine Studie auf: Über den Glauben an Gott wird unter
Kirchenmitgliedern kaum gesprochen. Gott ist kein Thema. Es ist vielen sogar
peinlich, über Gott zu sprechen.
Liebe Schwestern und Brüder,
mir zeigen die Gespräche, die unser Dialogprozess und das daraus entstandene
Zukunftsbild in unserem Bistum angestoßen haben, dass diese Beobachtung
zutreffend ist. Es wird unter uns Katholiken häufig über kirchenpolitische Themen
gestritten. Wir beschäftigen uns intensiv mit Fragen der Strukturen. Merkwürdig still
wird es aber, wenn es um Fragen geht, die in die Tiefe unseres Glaubens gehen. Es
fällt schwer, über das zu sprechen, was in unserem Zukunftsbild an erster Stelle
steht – über die Berührung durch und mit Gott, die das tragende Fundament
unseres Glaubens ist. Dabei geht es um geistliche Erfahrungen, die spürbar sind und das Leben bereichern. Ohne solche berührenden Erfahrungen bleibt der Glaube nur
eine Theorie. Das Sprechen über Glaubenserfahrungen fällt auch deshalb schwer,
weil wir aus einer Vergangenheit kommen, in der die persönliche Erfahrung nicht so
wichtig war. In volkskirchlichen Jahren galt es vorrangig, einen vorgegebenen
Glauben in Traditionen und Riten zu übernehmen. Damals war das passend. Heute
aber setzt christlicher Glaube eine persönliche Überzeugung voraus, die mit
Erfahrungen einhergeht.
Die Menschen in unserer Gesellschaft sind in jeder Hinsicht frei. Sie können und
müssen aus einer breiten Vielfalt an Möglichkeiten auswählen, um ihr Leben zu
gestalten. Das gilt auch für die Werte und Ideale, die dem Leben Richtung geben
sollen. Ein religiöser Glaube muss darum einsichtig sein und dem Leben tatsächlich
einen spürbaren Grund geben. Junge Menschen fragen deshalb, was es denn
"bringt", ein Christ zu sein und zur Kirche zu gehen. Viele Eltern erleben bei ihren
eigenen Kindern, dass sie eine solche Frage kaum überzeugend und verständlich
beantworten können.
Ich erlebe, dass Gespräche unter uns Katholiken anders verlaufen, wenn das
Erschrecken und die Traurigkeit über diese Beobachtungen zum Thema werden. Da
relativieren sich viele Struktur- und Finanzfragen. Es wird plötzlich sichtbar, dass wir
ein ernsthaftes Glaubensproblem haben. Wir sind oftmals nicht in der Lage, die
Faszination unseres Glaubens zu vermitteln. Im Gegenteil: Unser Glaube wirkt auf
viele Menschen wie ein erstarrtes Ritual aus vergangenen Zeiten. Unsere Sprache
erreicht viele gar nicht mehr. Wenn die Kirchenaustritte aus unterschiedlichen
Anlässen in die Höhe klettern, dann zeigt dies vor allem, wie weit sich bereits viele
Menschen von unserer Kirchen entfernt haben.
Die Realität ist schwer auszuhalten – und auch die eigene Ohnmacht, daran kaum
etwas ändern zu können. Aber die nüchterne Wahrnehmung der Realität ist ein
wichtiger Schritt, um herauszufinden, was Gott selbst uns mit dieser Situation sagen
will. Eines jedenfalls scheint mir klar zu sein: Wir können nicht einfach nur fortsetzen,
was wir immer schon getan haben, was wir kennen und für richtig halten.
Gott hat uns zu Weihnachten gezeigt, welche Richtung einzuschlagen ist, um ihm auf
die Spur zu kommen: Er ist Mensch geworden und in die Welt gekommen. Also
sollten auch wir unseren Blick in die Welt und auf die Menschen richten. In unserer
Situation bedeutet das: Es könnte helfen, die Perspektive der Menschen
einzunehmen, die mit Distanz auf uns schauen oder sich von uns verabschiedet
haben. Gerade ihre Kritik, ihre Enttäuschung, ihr Ärger und nicht zuletzt ihr
Unverständnis über das, was wir sagen und tun, können wichtige Impulse sein, mit
denen Gott uns selbst anfragen und aufrütteln will. Mir stellen sich beim Blick auf die
Welt und die Menschen um uns herum Fragen, die ich uns allen mitgeben möchte in
die vielen Überlegungen und Auseinandersetzungen um die Zukunft unserer Kirche:
- Ist uns selbst eigentlich bewußt, was der christliche Glaube für unser Leben
bedeutet – und können wir das auch verständlich und nachvollziehbar für
andere Menschen formulieren?
- Haben wir Orte, an denen die Kraft des Glaubens erfahrbar wird? Können wir
so beten und Gottesdienste feiern, dass dadurch andere Menschen
angesprochen und berührt werden?
- Sind wir vertraut mit dem, was die Menschen heute bewegt? Wissen wir, was
die jungen Menschen denken und was sie für ihr Leben suchen? Fragen wir
sie ernsthaft danach, wie eine Kirche aussehen müsste, der sie auch morgen
noch gerne angehören möchten?
- Sind wir offen für Menschen, die nur ab und zu mit uns in Verbindung treten
wollen, weil sie in den Lebenswenden oder zu besonderen Anlässen einen
Wunsch an uns richten? Sind uns diese Menschen willkommen und tun wir
alles, damit sie bei der Taufe ihrer Kinder, bei ihrer kirchlichen Trauung oder
im Krankheits- und Todesfall den Zuspruch und die Begleitung finden, die sie
brauchen?
- Sehen und unterstützen wir diejenigen, die außerhalb unserer Gemeinden
ihren Glauben im Alltag zu leben versuchen? Wissen wir, wie
Religionslehrerinnen und -lehrer mit jungen Menschen über unseren Glauben
im Gespräch sind? Interessieren wir uns für die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im sozialen und caritativen Dienst an bedürftigen Menschen? Sind
wir uns bewusst, wie viele Christen sich ehrenamtlich einsetzen für andere, die
Hilfe und Begleitung brauchen?
- Und nicht zuletzt: Sind wir als einzelne Christen erkennbar und fühlen wir uns
verantwortlich, im Alltag aus unserem Glauben zu leben? Haben wir eine
Ahnung davon, dass Kirche viel mehr ist als unsere Gemeinde und Pfarrei?
Können wir daran glauben, dass Kirche schon dort nahe ist, wo jede und jeder
einzelne von uns lebt und für andere da ist?
Liebe Schwestern und Brüder,
das sind bohrende Fragen in schwierigen Kirchen-Zeiten. Wir sind in Deutschland auf
dem Weg, eine kleinere Kirche zu werden. Wir wissen, dass unsere wirtschaftlichen
Möglichkeiten an Grenzen stoßen – viel schneller und dramatischer, als die meisten
von uns wahr haben wollen. Die Kirchensteuer "sprudelte" zwar in den letzten
Jahren, aber im Bistum Essen zeigt der Trend nach unten. Wir müssen uns darauf
einstellen, mit deutlich weniger Mitteln unsere Kirche zu gestalten. Das wird nicht
leicht, weil viele glaubten, nach den großen Veränderungen vor zehn Jahren käme
eine längere Phase der Stabilität.
So wichtig Finanzen und Strukturen in der Kirche sein mögen – viel entscheidender
aber sind die Antworten auf solche Fragen, die ich eben formuliert habe. Was nutzen
uns Gebäude und viele Strukturen, wenn kein Mensch mehr nach Gott fragt? Was
nutzt eine Kirche, wenn es keine Menschen gibt, die den christlichen Glauben für
sich entdecken und leben? Darum möchte ich Sie alle dazu ermutigen und einladen,
unseren Weg der inneren Auseinandersetzung, des Gespräches und Dialoges
weiterzugehen. Unser Zukunftsbild bleibt dabei eine wichtige Orientierung, weil es
sehr persönliche und fundamentale Anstöße gibt. Im kommenden Jahr wird es dazu
weitere Veranstaltungen geben, die uns weitere Perspektiven für den Weg in die
Zukunft unseres Bistums geben sollen. Höhepunkte werden ein Zukunftsforum am
20. Juni sowie ein Bistumsfest zum Zukunftsbild am 29. August 2015 sein.
Der Dialogprozess und die Auseinandersetzung mit unserem Zukunftsbild sind für
mich ein geistlicher Weg, der dabei helfen kann, als Kirche im Bistum Essen neu zu werden. Ich weiß, dass dieser Gedanke für viele unter uns schwierig ist. Abschiede
sind aber stets Übergänge zu etwas Neuem, wie wir das ja auch zur Jahreswende
erfahren dürfen. Ich bin darum sehr davon überzeugt, dass unsere Kirche neu
werden kann!
Diese neu werdende Kirche lebt vor allem aus entschiedenen Menschen, die vom
christlichen Glauben erfüllt sind. Sie strahlen aus, sie sind anziehend, sie haben
etwas zu sagen und wecken bei anderen eine Ahnung von Gottes Kraft. Sie feiern
Gottesdienste, die berühren können. Bei ihnen und mit ihnen finden andere
Menschen eine Botschaft, die ihnen weiterhilft und die ihre Seelen nährt. Die
Christen dieser neu werdenden Kirche stehen für eine ur-menschliche Solidarität. Sie
helfen, wo sie können. Sie engagieren sich dort, wo andere in Not sind oder Unrecht
erleiden. Sie nehmen Einfluss, wenn es um Menschlichkeit in Politik und Gesellschaft
geht. Die neu werdende Kirche hat vielleicht keinen großen äußeren "Apparat", aber
sie besteht aus überzeugten und überzeugenden Christen. Ihnen geht es nicht um
die Kirche an sich, als "Selbstzweck", sondern allein darum, in der Nachfolge Jesu zu
gehen, der in die Welt kam, um bei den Menschen zu sein.
So lassen Sie uns miteinander auf dem Weg Jesu als Kirche von Essen neu werden!
Lassen Sie uns Kirche sein für die Menschen, die zwischen Lenne und Ruhr in ihrer
ganzen Vielfalt leben. Lassen Sie uns mit ihnen Gott suchen und finden, der nicht in
weiter Ferne thront, sondern mitten in dieser Welt unser Leben mit uns teilt, der uns
begleitet, trägt, und Orientierung gibt.
Im festen Vertrauen auf Gottes Geleit wünsche ich Ihnen, Ihren Familien und allen,
die zu Ihnen gehören, für das neue Jahr 2015 alles Gute, Glück, Gesundheit und Gottes Segen!