Impuls vom 15.01.2009
Ökumenische Zwischensituation
Wir befinden uns ökumenisch in einer Zwischensituation. Schon ist Entscheidendes geschehen. Jeder, der ein paar Jahrzehnte zurückdenken kann, weiß, dass in diesen Jahrzehnten mehr geschehen ist als in Jahrhunderten zuvor. Es sind wichtige Texte entstanden, welche eine beträchtliche Annäherung bezeugen.
Viel wichtiger ist, was im Leben geschehen ist. Evangelische und katholische Christen betrachten sich heute nicht mehr als Gegner und Konkurrenten- sie verstehen sich als Brüder und Schwestern- sie leben, sie arbeiten und sie beten zusammen. Dafür sollen wir dankbar sein. Wir sollten uns die Ökumene nicht von Schwarzsehern schlecht reden lassen und keinem apokalyptischen Pessimismus verfallen, der überall nur Verfall und Untergang sieht. Papst Johannes XXIII. hat bei der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils vor solchen Unheilspropheten nachdrücklich gewarnt.
Aber wir sollten auch keine ökumenischen Träumer sein, die Utopien nachlaufen. Es gibt zweierlei Utopien: die progressistische, welche die herumliegenden Mauerbrocken und die Gräben nicht mehr sieht und deshalb auf die Nase fällt. Sie meint, alle Unterschiede seien im Grunde längst behoben oder nur noch unnützes Theologengezänk, das man auf sich beruhen lassen kann. Aber stellen Sie sich nur einmal einen katholischen Pfarrer vor, der den Tabernakel aus der Kirche hinauswirft, weil er keinen Unterschied zu den Evangelischen will, oder einen evangelischen Pfarrer, der einen Tabernakel aufstellt. Den Aufruhr in beiden Gemeinden kann man sich leicht vorstellen- er würde die leider noch bestehenden Unterschiede sehr schnell deutlich machen.
Neben der progressistischen Utopie gibt es die klerikalistisch-integralistische Utopie. Sie meint die Probleme durch möglichst viele Verbotsschilder regeln zu können. Es gibt leider Äußerungen, die nur sagen, was man alles nicht tun darf, die aber keine positiven Wege aus dem Skandal der Trennung aufzeigen. Das ist ebenfalls nicht hilfreich- damit erstickt man schon im Keim alle Entwicklung und alles Leben.
Christen sind weder rabenschwarz drein schauende Pessimisten, noch sind sie alles rosarot sehende Utopisten- Christen sind Realisten des Glaubens und Realisten des Lebens. Alles Leben bewegt sich in einem spannungsvollen Zwischen. In diesem Sinn stehen wir ökumenisch in einer Zeit des Übergangs. Wir haben auf unserem Weg glücklich einige Meilensteine erreicht, aber noch nicht das Ziel. Es ist noch eine Zeit des Wartens und des Reifens oder - wie der Epheserbrief sagt - eine Zeit des Bauens und des Heranwachsens zur ganzen Fülle Christi (Eph 4,16).
(Walter Kardinal Kasper)